Dehnen
Das Thema Dehnen im Allgemeinen und das herkömmliche statische Dehnen im Besonderen sind viel diskutierte Themen bei Trainern und Therapeuten. Es stellt sich die Frage nach Wirksamkeit, der richtigen Steuerung und Indikationen für die unterschiedlichen Dehnmethoden. Wir haben das Thema für Sie recherchiert, suchen in diesem Fachbeitrag nach Antworten und möchten Ihnen unsere Philosophie aus der Praxis bei R2comSport näherbringen und Empfehlungen für das richtige Dehnen geben.
Strukturelle Verkürzung oder funktionelle Einschränkung?
Das dauerhafte Halten einer Position, etwa durch Immobilisation nach einer Verletzung kann zu einer strukturellen Anpassung an eine angenäherte Position und folglich zu einer eingeschränkten Mobilität führen. Auch Stereotype Haltungs- und Bewegungsmuster im Alltag (z.B. vorgebeugte Position am Schreibtisch) und im Sport (z.B. Schussbein beim Fußball) führen nicht selten zur einer Restriktion der Beweglichkeit. Dabei liegen jedoch eher funktionelle Anpassungen zu Grunde. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird gerne und recht pauschal von einer „Verkürzung“ gesprochen um die eingeschränkte Mobilität in einem Gelenk oder eine schlechte Haltung zu erklären. Statische Dehnübungen sind weit verbreitet und sollen dabei Abhilfe schaffen. Doch selten sind Strukturen, wie die Sarkomere der Muskelfasern oder umliegende Strukturen tatsächlich mechanisch kürzer. Häufig ist die Ursache einer limitierten Beweglichkeit im sogenannten „Hypertonus“ (einer übermäßigen Grundspannung) eines oder mehrerer angrenzender Muskeln zu suchen. Zu einer solchen kommt es wenn der Körper versucht Dysfunktionen, also die Schwäche, bzw. Inaktivität von Muskeln oder falsche Bewegungsmuster zu kompensieren um unsere aufrechte Haltung und (Fort-)Bewegung zu ermöglichen. Wer Bewegungsrestriktionen also pauschal mit statischen Dehnprogrammen begegnet könnte damit das Ziel verfehlen. Einfach gedacht kann man Muskeln in sogenannte phasische und tonische Muskeln einteilen. Phasische Muskeln sind für große, schnelle Bewegungen zuständig. Tonische Muskeln leisten überwiegend Haltearbeit. Verletzungen, Übertraining, Stress und einseitige Haltungsmuster schwächen phasische Muskeln und können zur kompensatorischen Erhöhung des Spannungszustandes tonischer Muskeln führen, welche nicht selten als „Verkürzung“ missverstanden wird. Ein gutes Beispiel hierfür ist die phasische Gluteal- oder Gesäßmuskulatur, welche aus verschiedenen Gründen geschwächt oder gehemmt sein kann (Übertraining, Inaktivität, Verletzung etc.). Um die Integrität des Beckens und der Wirbelsäule aufrecht halten zu können und einen aufrechten Gang zu ermöglichen wird der Tonus „tonischer“ Muskeln wie der ischiokruralen (rückwertigen Oberschenkel-) und unteren rückenstreckenden Muskulatur erhöht. Oft ein Grund für Muskelverletzungen der Beinbeuger und Schmerzsymptomatiken im Bereich des unteren Rückens. Der hohe Tonus der ischiokruralen Muskulatur wird die Bewegungsamplitude bei der Hüftflexion einschränken, was sich in einfachen klinischen Tests zeigen lässt. Daraus jedoch den Schluss zu ziehen, dass die Muskulatur an der Oberschenkelrückseite „verkürzt“ ist und man das Problem mit statischem Dehnen der Beinbeuger beheben kann, weil diese dann wieder „länger“ werden, ist i.d.R. nicht zielführend, sondern unter Umständen langfristig sogar eher kontraproduktiv.
Methoden
Langes statisches Dehnen steht meist in Verbindung mit dem Wunsch den vermeintlich „verkürzten“ Muskel wieder „lang“ zu machen. Dies ist tatsächlich möglich, jedoch sind für einen anhaltenden Effekt wesentlich längere Haltezeiten indiziert, als dies gewöhnlich praktiziert wird und entsprechende Stretchingroutinen müssen über einen langen Zeitraum regelmäßig durchgeführt werden. Verschiedene Studien zeigen strukturelle Anpassungen bei Haltephasen zwischen 4 und 20 Minuten und einer regelmäßigen Durchführung über einen Zeitraum von mehreren Monaten.
Kurzfristig kann auch kürzer appliziertes statisches Dehnen einen Effekt haben. Allerdings ist dieser nicht strukturell sondern funktionell einzuordnen. Dabei wird lediglich der Tonus der Muskulatur gesenkt und die Mobilität kurzfristig verbessert. Nach kurzer Zeit wird sich der Tonus wieder erhöhen und die Restriktionen bleiben bestehen. Wird die Ursache, etwa eine bestehende Muskelschwäche nicht behoben, wird das Problem immer wieder kehren. Mit dem (kurzfristig) gesenkten Tonus nimmt auch die Schnell- und Reaktivkraftfähigkeit der Muskulatur ab, was im Training oder Wettkampf nachteilig sein kann.
Die Aktivierung und Kräftigung von geschwächten phasischen Muskeln führt wesentlich schneller und in höherem Maße zu einer Verbesserung der Mobilität und Reduktion der Problematik. In unserem Beispiel wird eine Aktivierung der Glutealmuskulatur zu einer „Verlängerung“ der ischiokruralen Muskulatur führen, da der erhöhte Tonus nicht länger benötigt wird um die mangelnde Aktivität der Gesäßmuskeln zu kompensieren. Selbiges gilt für die Rückenstrecker.
Zur Aktivierung von phasischen Muskeln eignen sich verschiedene dynamische und isometrische Übungen mit niedriger Intensität, die sich zu Beginn des Trainings durchführen lassen.
Statisches Dehnen führen wir, bei gegebener Indikation, am Ende des Trainings aus. Dabei gibt es effektive Alternativen zum herkömmlichen statischen Dehnen, bei dem i.d.R. mit dem Körpergewicht gearbeitet wird und der Muskel in einer verlängerten Position gehalten wird. Wir nutzen verschiedene assistierte Dehntechniken bei denen ein Therapeut durch einen manuellen Widerstand einen Wechsel von Anspannung und Dehnung ermöglicht. Für das eigenständige Training empfehlen wir das „Dehnen mit Gewichten“ und verschiedene myofasziale Dehntechniken. Unter dem Dehnen mit Gewichten verstehen wir das Einnehmen und Halten von sportart- bzw. alltagsnahen Positionen oder Bewegungsmustern, bei denen Muskeln bzw. funktionelle Muskelketten Zug erfahren. Dabei kann beginnend mit dem Körpergewicht auch zunehmend mit Gewichten beladen und somit der Zug verstärkt werden. Ein Beispiel für solch eine Position und Übung ist der gehaltene Ausfallschritt. Richtig ausgeführt, spüren viele Trainierende dabei nicht nur die arbeitende Muskulatur des Standbeines, sondern auch eine Dehnung auf der Spielbeinseite. Problemlos lässt sich die Dehnung durch eine veränderte Positionierung des hinteren Fußes oder den Einsatz von Zusatzgewichten erhöhen. Untersuchungen haben für die mit Gewichten beladenen Dehnübungen nicht nur einen hohen Effekt auf die Mobilität gezeigt. Auch Muskelkraft und -Masse profitieren von solchen „beladenen“ Dehnübungen. Die Effektivität in Bezug auf die verbesserte Mobilität lässt sich dabei unter anderem auf den positiven Effekt zurückführen den die Übungen auf die myofaszialen Züge im Körper haben.
Verschiedene neuere Konzepte adressieren explizit die Faszien, respektive die myofaszialen Züge im Körper. Die Wirkungsweise ist dem des Dehnens mit Gewichten nahe. Bei der Auswahl der Positionen und Bewegungsmustern wird sich an den faszialen Ketten orientiert. Charakteristisch sind meist wippende Bewegungen am natürlichen Bewegungsende mit denen die bindegewebigen Faszien stimuliert werden. Die Dehnpositionen werden dabei variiert um alle Faseranteile- und Züge der myofaszialen Strukturen zu erreichen.
Empfehlungen für die Praxis
Liegt nicht explizit eine größere Verletzung zu Grunde resultieren Restriktionen der Beweglichkeit eines Gelenkes eher aus einer Muskelschwäche, als aus einer „Verkürzung“. Folglich sollte der Fokus auf der Aktivierung und Kräftigung der phasischen Muskeln liegen um eine adäquate Mobilität zu ermöglichen. Wir integrieren Aktivierungsübungen in die Aufwärm- bzw. Bewegungsvorbereitende Routine vor dem Training. Je nach Ausgangsniveau des Patienten oder Athleten können die Aktivierungsübungen auch schon einen Trainingsreiz im Sinne des Haupttrainingsinhaltes der Trainingseinheit darstellen. Ergänzend führen wir mobilisierende dynamische Dehnübungen durch. Die Dehnung eines Muskels sollte dabei vor dem Training nur wenige Sekunden gehalten werden um einen negativen Einfluss auf die Kraft- und Schnelligkeitsfähigkeiten zu verhindern, wenn diese im Training gefordert sind.
Ist das Training nicht auf schnell- oder explosivkräftige Bewegungen ausgelegt kann man sich den kurzfristig Tonus senkenden Effekt statischer Dehnübungen vor bzw. im Training zu nutzen machen. Die dadurch verbesserte Mobilität kann bei komplexen Übungen wie Kniebeugen geeignet sein um eine größere Bewegungsamplitude und Bewegungsqualität zu ermöglichen.
Längeres Statisches Dehnen oder entsprechende Alternativen sollten am Ende einer Trainingseinheit durchgeführt werden. Ist die Zielsetzung bei gegebener Indikation tatsächlich die Stimulation struktureller Anpassungen sollten entsprechend notwendige Haltephasen und Umfänge berücksichtigt werden und das Dehnen vielleicht sogar als eigenständige Trainingseinheit durchgeführt werden.
(JRA)